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§ 406e StPO - Akteneinsicht (Kommentar)

(1) ¹Für den Verletzten kann ein Rechtsanwalt die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke besichtigen, soweit er hierfür ein berechtigtes Interesse darlegt. ²In den in § 395 genannten Fällen bedarf es der Darlegung eines berechtigten Interesses nicht.

(2) ¹Die Einsicht in die Akten ist zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. ²Sie kann versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, gefährdet erscheint. ³Sie kann auch versagt werden, wenn durch sie das Verfahren erheblich verzögert würde, es sei denn, dass die Staatsanwaltschaft in den in § 395 genannten Fällen den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat.

(3) ¹Der Verletzte, der nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten wird, ist in entsprechender Anwendung der Absätze 1 und 2 befugt, die Akten einzusehen und amtlich verwahrte Beweisstücke unter Aufsicht zu besichtigen. ²Werden die Akten nicht elektronisch geführt, können ihm an Stelle der Einsichtnahme in die Akten Kopien aus den Akten übermittelt werden. ³§ 480 Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten auch für die in § 403 Satz 2 Genannten.

(5) ¹Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens die Staatsanwaltschaft, im übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts. ²Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nach Satz 1 kann gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 zuständige Gericht beantragt werden. ³Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. ⁴Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar, solange die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. ⁵Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte.

1. Allgemeines

Eingeordnet ist § 406e unter dem 5. Abschnitt - Sonstige Befugnisse des Verletzten (§§ 406d - 406l) im 5. Buch - Beteiligung des Verletzten am Verfahren (§§ 374 - 406l) der Strafprozessordnung. Das Gesetz bestimmt die Rechte des Verletzten auf Akteneinsicht. Die Einführung erfolgte durch das Erstes Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) vom 18.12.1986.1

Im Entwurf der Bundesregierung heißt es zur Zielsetzung des Gesetzes2:

„Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren ist durch das geltende Recht unzureichend geregelt. Insbesondere die Opfer schwerer Straftaten bedürfen einer gesicherten Beteiligungsbefugnis und einer Verbesserung des Schutzes vor Beeinträchtigungen durch das Verfahren selbst. Auch die Möglichkeiten, daß das Opfer der Straftat Ersatz seines materiellen Schadens erlangt, müssen verbessert werden.

Der Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, durch erste gesetzliche Maßnahmen die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren umfassend zu verbessern. Er wahrt dabei die historisch gewachsenen Verteidigungsbefugnisse des Beschuldigten und stellt sicher, daß die Strafjustiz nicht zusätzlich unvertretbar belastet wird.“

In der Begründung des Bundestags heißt es:3

„Der Entwurf schlägt vor, das die Regelung über die Beteiligung des Verletzten am Verfahren enthaltende 5. Buch der StPO um einen weiteren vierten Abschnitt zu ergänzen. Dieser Abschnitt faßt die für alle Verletzten geltenden Vorschriften zusammen, soweit sie nicht, wie etwa beim Klageerzwingungsverfahren, aus systematischen Gründen in anderen Zusammenhängen zu regeln sind. Ferner gewährt er dem zum Anschluß als Nebenkläger berechtigten Verletzten besondere Befugnisse schon im Vorverfahren und auch ohne einen formellen Anschluß als Nebenkläger. Dadurch, daß in dem neuen vierten Abschnitt die für alle Verletzten bestehenden Befugnisse zusammenfassend und erweiternd neu geregelt werden, wird über die Summe der Einzelregelungen hinaus zugleich verdeutlicht, daß der Verletzte als selbständiger Prozeßbeteiligter anerkannt wird.

Bei der Ausgestaltung der Prozeßrolle des Verletzten werden ihm, abgesehen von der unverzichtbaren Zeugenpflicht, nur fakultative Beteiligungsmöglichkeiten eröffnet. Die Regelungen des Entwurfs überlassen es seiner freien Entscheidung, ob und in welchem Umfang er von den neu geschaffenen Beteiligungsbefugnissen Gebrauch machen will; denn diese sind in seinem Interesse und in erster Linie zu seinem Schutz geschaffen. Diesen Schutzgedanken verwirklicht der Entwurf vorrangig dadurch, daß er mit seinen Vorschlägen dem Verletzten eine gesicherte Rechtsposition zur Darstellung seiner Interessen und zur Abwehr von Verantwortungszuweisungen einräumt, zu diesem Zweck auch die Informationsmöglichkeiten des Verletzten verbessert und die Möglichkeit gewährleistet, einen fachkundigen Beistand hinzuzuziehen.

Im neuen vierten Abschnitt gewährt § 406 d dem Verletzten einen Anspruch darauf, daß er über für ihn wichtige Verfahrensereignisse informiert wird. Diese Informationsmöglichkeit wird durch das in § 406 e nunmehr gesetzlich gewährleistete Akteneinsichtsrecht des Verletzten ergänzt. Der neue § 406f gestattet jedem Verletzten, sich eines Rechtsanwalts als Beistand zu bedienen und regelt zugleich dessen Befugnisse. Ergänzend gewährt § 406 g dem Rechtsanwalt, der für den zum Anschluß als Nebenkläger befugten Verletztenauftritt, besondere Befugnisse.

Wie das geltende Recht sieht auch der Entwurf davon ab, den Begriff des Verletzten zu bestimmen. Es ist heute weitgehend anerkannt, daß es einen einheitlichen Verletztenbegriff im Strafverfahrensrecht nicht gibt, sondern daß dieser aus dem jeweiligen Funktionszusammenhang heraus zu bestimmen ist. Dabei haben sich bei unterschiedlichen dogmatischen Ausgangspunkten namentlich zu § 172 im Ergebnis die Auffassungen so angenähert, daß in einem großen Kernbereich in der Praxis weitgehende Übereinstimmung besteht, wer als Verletzter anzusehen ist. Die nähere Bestimmung des Verletzten in Grenzbereichen sollte der Rechtsprechung überlassen bleiben; eine notwendigerweise generalisierende gesetzliche Regelung könnte, wie auch ausländische Regelungen zeigen, zu einer größeren Rechtssicherheit nicht nennenswert beitragen.“

2. Absatz 1

Der Gesetzgeber begründete Absatz 1 zu § 406e StPO folgendermaßen:4

„Absatz 1 Satz 1 bestimmt zunächst, daß der Verletzte das Akteneinsichtsrecht nur durch einen Rechtsanwalt ausüben kann (vgl. auch die entsprechende Regelung für das nur dem Verteidiger zustehende Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten in § 147), und fordert im Regelfall die Darlegung eines berechtigten Interesses (vgl. auch Nr. 185 Abs. 4 RiStBV). Satz 2 macht insoweit eine Ausnahme für diejenigen Verletzten, die als Nebenkläger anschlußbefugt wären, und zwar auch schon für das Akteneinsichtsrecht im Vorverfahren.“

3. Absatz 2

Den zweiten Absatz des § 406e StPO begründete der Bundestag mit:5

„Absatz 2 regelt die Fälle, in denen trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Absatzes 1 die Akteneinsicht zu versagen ist oder versagt werden kann. Sie ist nach Satz 1 im Interesse des Persönlichkeitsschutzes des Beschuldigten oder Dritter zu versagen, wenn deren Interesse an der Geheimhaltung ihrer in den Akten enthaltenen persönlichen Daten überwiegt. Nach Satz 2 kann sie bei sonst drohender erheblicher Verfahrensverzögerung oder bei Gefährdung des Untersuchungszwecks versagt werden. Anders als in § 147 Abs. 2 ist die Versagung bei Gefährdung des Untersuchungszwecks auch nach Klageerhebung möglich. Dieser Versagungsgrund kann deshalb auch dann herangezogen werden, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. Wie die Verwendung des Wortes „soweit" deutlich macht, hindern die Versagungsgründe das Akteneinsichtsrecht nur, soweit sie ihm entgegenstehen. Deshalb ist stets zu prüfen, ob eine nur partielle Akteneinsicht gewährt werden kann oder ob bei mehreren Verletzten dem Versagungsgrund der drohenden Verfahrensverzögerung dadurch begegnet werden kann, daß diese einen gemeinsamen, zur Akteneinsicht bevollmächtigten Rechtsanwalt benennen.“

Das LG Kiel führt an, dass der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes gefährdet sei, „wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 II StPO) zu besorgen ist (vgl. nur BT-Drucks. 10/5305, S. 18)“ – oder anders ausgedrück: „Das Akteneinsichtsrecht des Nebenklägers kann versagt werden, wenn hierdurch der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Verfahren, gefährdet erscheint. Dies ist dann der Fall, wenn die Sicherstellung einer unbefangenen, zuverlässigen und wahren Aussage des Nebenklägers in einer eventuellen späteren Hauptverhandlung durch dessen vorherige Kenntnisnahme vom Inhalt seiner kriminalpolizeilichen Aussage gefährdet wird“.6

4. Absatz 3

Der Bundestag begründete die Einführung des § 406e Abs. 3 StPO wie folgt:7

„Absatz 3 entspricht § 147 Abs. 4, doch ist, um Verfahrensverzögerungen zu vermeiden, der dortige grundsätzliche Anspruch auf Aktenmitgabe auf eine bloße Mitgabebefugnis reduziert worden.“

5. Absatz 4

Die Gesetzesbegründung zu Absatz 4 lautete:8

„Absatz 4 Satz 1 begründet für die Entscheidung über die Akteneinsicht die Zuständigkeit der jeweils aktenführenden Stelle. Wird diese Entscheidung von einem Gericht getroffen, so besteht für ein Rechtsmittel kein zwingender Grund; im Interesse der Verfahrensökonomie soll die Entscheidung unanfechtbar sein. Dagegen ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG jedenfalls für den Verletzten, dem die Akteneinsicht durch eine staatsanwaltschaftliche Entscheidung versagt wird, eine Anfechtungsmöglichkeit vorzusehen. Es erscheint sachgerecht, hierfür nicht das Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG zu wählen, sondern auf § 161 a Abs. 3 zurückzugreifen, der die Anfechtbarkeit staatsanwaltschaftlicher Maßnahmen in einem vergleichbaren Fall regelt. Das schlägt der Entwurf in Satz 2 vor.“

6. Absatz 5

Die Begründung des Bundestages zu Absatz 5 lautete:9

„Absatz 5 entspricht inhaltlich im wesentlichen Nr. 185 Abs. 5 Satz 2 RiStBV. Die Vorschrift bietet zugleich die gesetzliche Grundlage dafür, daß die Strafverfolgungsbehörden solche Auskünfte erteilen dürfen. Sie dient ferner der Verfahrensökonomie und trägt dazu bei, die berechtigten Informationsinteressen des Verletzten zu erfüllen, ohne daß er allein für die Akteneinsicht einen Rechtsanwalt einschalten muß.“

Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
Weitere Literatur: